Das unterschätzte Vitamin D
Die Zahlen klangen alarmierend: 91 Prozent der Frauen und 82 Prozent der Männer in Deutschland nehmen nicht genügend Vitamin D zu sich. Zu diesem Ergebnis war vor mehr als einem Jahr die Nationale Verzehrstudie (NVS) II gekommen. Für die bundesweite Erhebung, die das Max Rubner-Institut (MRI) in Karlsruhe im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz vorgenommen hatte, waren rund 20 000 Menschen zwischen 14 und 80 Jahren zu ihren Ernährungsgewohnheiten befragt worden.
Vitamin D kommt in Lebensmitteln fast nicht vor
Der Hauptgrund für die eklatante Unterversorgung besteht darin, dass Vitamin D nur in wenigen Lebensmitteln vorkommt: hauptsächlich in fettem Fisch wie Aal, Lachs und Hering sowie in geringerer Konzentration in Eiern und Pilzen. „Über die Nahrung ausreichend Vitamin D aufzunehmen, ist fast unmöglich“, sagt Bernhard Watzl, der Leiter des Instituts für Physiologie und Biochemie der Ernährung am MRI.
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung erwägt, ihre Zufuhrempfehlung heraufzusetzen
Bei der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) denkt man spätestens seit der Veröffentlichung der NVS-II-Ergebnisse darüber nach, die Referenzwerte, also die empfohlene Tageszufuhr, für Vitamin D zu erhöhen. Das allerdings hätte weit reichende Konsequenzen. Entweder müssten einzelne Lebensmittel gezielt mit dem Vitamin angereichert werden oder die DGE müsste weiten Teilen der Bevölkerung die Einnahme von Vitamin-D-Präparaten empfehlen.
„Eine solche Entscheidung muss wissenschaftlich extrem gut abgesichert sein“, sagt Jakob Linseisen vom Institut für Epidemiologie am Helmholtz Zentrum München. Linseisen leitet eine Arbeitsgruppe, die sich im Auftrag der DGE damit befasst, inwieweit Vitamin D Krankheiten vorbeugen kann und welche Blutwerte dazu nötig sind. Im Laufe des Frühjahrs wird er die Ergebnisse seines Teams der DGE vorstellen – die dann voraussichtlich bis Ende des Jahres entscheiden wird, ob sie die Referenzwerte tatsächlich erhöht oder ob alles so bleibt, wie es ist.
Über die Ernährung kann man die Versorgung mit Vitamin D nicht absichern
Denkbar wäre das letztere Szenario aus zwei Gründen nämlich auch. „Zum einen ist es gar nicht möglich, allein von der Vitamin-D-Aufnahme durch die Ernährung auf die tatsächliche Versorgung mit dem Vitamin zu schließen“, sagt der Ernährungsphysiologe Peter Stehle vom Institut für Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaften der Universität Bonn. Das liegt daran, dass der Mensch unter dem Einfluss von Sonnenlicht Vitamin D in seiner Haut selbst produzieren kann – vor allem in den Monaten März bis Oktober. Wer sich in der hellen Jahreszeit zwischen 15 und 30 Minuten am Tag mit nackten Armen und ohne Sonnencreme im Freien aufhält, der ist in der Regel ausreichend mit dem Vitamin versorgt. Und da der Körper Vitamin D speichern kann, kommen die meisten Menschen auf diese Weise auch gut durch den Winter.
Zum anderen wissen die Forscher noch immer relativ wenig darüber, welche zahlreichen Funktionen das Vitamin im Organismus ausübt und welche Konzentrationen dafür im Blut vorhanden sein müssen. Sicher ist bislang nur, dass Vitamin D eine Rolle bei der Knochengesundheit spielt. Kinder, die nicht ausreichend mit dem Vitamin versorgt sind, leiden an Rachitis – einer Krankheit, bei der die Knochen nicht vollständig verkalken und sich somit bei Belastung verbiegen. Ältere Menschen neigen bei einem Vitamin-D-Mangel verstärkt zu Osteoporose, wobei die Knochen brüchig werden. „Die derzeitigen Referenzwerte der DGE zielen allein darauf ab, Knochenkrankheiten vorzubeugen“, erklärt Bernhard Watzl.
Zahlreiche Rezeptoren
Sehr wahrscheinlich sei allerdings, dass Vitamin D an der Prävention einer ganzen Reihe von Krankheiten beteiligt sei, sagt der Vitaminforscher und Ernährungswissenschaftler Armin Zittermann vom Herz- und Diabeteszentrum Nordrhein-Westfalen in Bad Oeynhausen. In fast allen Organen des Menschen wurden inzwischen Vitamin-D-Rezeptoren nachgewiesen – was mit großer Sicherheit darauf schließen lässt, dass das Vitamin dort auch eine Aufgabe erfüllt.
Flut von wissenschaftlichen Studien zu Vitamin D
Zudem ist in den vergangenen Jahren kaum ein Monat vergangen, ohne dass eine neue wissenschaftliche Studie zum Thema Vitamin D erschienen wäre. Mit den Ergebnissen dieser Untersuchungen mehren sich die Hinweise, dass das Vitamin nicht nur Knochenerkrankungen, sondern unter anderem auch Herz-Kreislauf-Leiden, Diabetes und Darmkrebs vorbeugen kann. „Welche dieser Zusammenhänge wissenschaftlich bewiesen sind, welche Blutwerte zur Prävention erforderlich sind und wie sich diese Werte am ehesten erreichen lassen, hoffen wir im April oder Mai von der Gruppe um Herrn Dr. Linseisen zu erfahren“, sagt Angela Bechthold vom Referat Wissenschaft der DGE.
Vermutlich werden die Forscher um Linseisen – die sich momentan noch sehr bedeckt halten – für ihre Analysen auch einen Blick in die USA geworfen haben. Dort hatte das unabhängige Institute of Medicine (IOM), das der National Academy of Sciences angehört, im November zwar die empfohlene Tagesdosis Vitamin D für Menschen bis zum 70. Lebensjahr von 400 auf 600 IE (Internationale Einheiten, 1 IE = 0,025 Mikrogramm) erhöht. Gleichzeitig stellte das IOM in seinem Report aber klar, dass der Großteil der Bevölkerung entgegen verbreiteter Ansichten ausreichend mit dem Vitamin versorgt sei. Zum Vergleich: Die DGE empfiehlt Kindern und Erwachsenen bis zum 65. Lebensjahr derzeit 200 IE am Tag.
Eine hoch dosierte Einnahme von Vitamin D stufte das IOM im besten Fall als unnötig, womöglich aber auch als gesundheitsgefährdend ein. Vitamin-D-Präparate, die in amerikanischen Supermärkten zum Teil in einer Dosierung von bis zu 5000 IE pro Tablette erhältlich sind, stünden in Verdacht, Herz und Nieren zu schädigen, heißt es in dem Bericht. Eine Tagesdosis von 4000 IE solle daher nicht überschritten werden.
Für eine Entscheidung in Deutschland kann der Blick in die USA allerdings allenfalls einen Anhaltspunkt darstellen. „Die Situation dort ist mit der hiesigen nicht wirklich vergleichbar“, sagt Watzl. Zum einen liege eine große Fläche der Vereinigten Staaten weiter südlich als Deutschland, wodurch die Menschen dort mehr Sonne abbekämen. Zum andern sei in den USA die im Supermarkt erhältliche Milch in der Regel mit Vitamin D angereichert. Folglich haben die meisten US-Amerikaner dem IOM zufolge Blutwerte von mindestens 50 Nanomol pro Liter, die das Institut als ausreichend einstuft. Der Wert bezieht sich auf die Konzentration von 25-Hydroxy-Vitamin D, ein Stoffwechselprodukt, mit dem sich die tatsächliche Versorgung mit Vitamin D besser einschätzen lässt.
In Deutschland unterschreiten viele Menschen diesen Grenzwert
Eine im Jahr 2008 veröffentlichte Studie, die ein Team um Birte Hintzpeter vom Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin vorgenommen hat, zeigt beispielsweise, dass 57 Prozent der Männer und 58 Prozent der Frauen in Deutschland Werte unter 50 Nanomol pro Liter Blut aufweisen. Als besonders gravierend erwies sich in der Untersuchung, für die 4030 Probanden im Alter von 18 bis 79 Jahren rekrutiert worden waren, der Mangel bei Frauen über 65: Von ihnen verfehlten 75 Prozent den angestrebten Zielwert – und zwar sogar in den Sommermonaten, wenn der Körper Vitamin D eigentlich selbst herstellen kann.
Bei den Kindern sieht die Lage nicht besser aus. Die zwischen 2003 und 2006 vorgenommene RKI-Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) ergab, dass 62 Prozent der Jungen und 64 Prozent der Mädchen den Grenzwert von 50 Nanomol pro Liter Blut unterschreiten.
Streit um die richtige Dosis
Und ob dieser Wert überhaupt ausreicht, damit das Vitamin D seine schützenden Funktionen im Körper ausüben kann, ist ohnehin noch umstritten. Heike Bischoff-Ferrari vom Zentrum Alter und Mobilität der Universität Zürich ist überzeugt, dass 50 Nanomol zu wenig sind: „Dieser Zielwert ist nicht mit den neuesten Daten für eine optimale Knochengesundheit bei Erwachsenen vereinbar“, sagt sie. Um Knochenbrüchen im Alter vorzubeugen, sei ein Wert von mindestens 75 Nanomol anzustreben. Und um den Wert bei mindestens der Hälfte der Bevölkerung zu erreichen, seien zwischen 700 und 1000 IE am Tag notwendig. Solche Mengen an Vitamin D lassen sich aber allein mit der Nahrung nicht aufnehmen.
Auch der Ernährungswissenschaftler Armin Zittermann ist der Ansicht, dass die Einnahme eines Vitamin-D-Präparats zumindest während der Wintermonate für die meisten Menschen sinnvoll wäre. „Mehrere Studien haben inzwischen gezeigt, dass sich mit einem Blutwert zwischen 75 und 120 Nanomol das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes senken lässt“, sagt er.
Zwar mag Zittermann derzeit noch nicht konkret beziffern, welche Mengen Vitamin D ein Erwachsener am Tag zu sich nehmen sollte. Eines hält er aber -ebenso wie Bernhard Watzl vom MRI – für sicher: „Die derzeitigen Referenzwerte der DGE sind zu niedrig.“
Aktuelle Empfehlungen der DGE
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) rät Kindern und Erwachsenen zurzeit, täglich fünf Mikrogramm (200 IE) Vitamin D mit der Nahrung zu sich zu nehmen. Säuglinge und Senioren über 65 Jahren benötigen zehn Mikrogramm (400 IE) am Tag.
(Ergänzung: Seit 2012 gibt die DGE als neuen Referenzwert für die Vitamin D-Zufuhr unter der Annahme einer fehlenden körpereigenen Bildung 20 µg Vitamin D pro Tag an).
Für ältere Menschen könne es zur Erfüllung des Referenzwertes sinnvoll sein, Vitamin D zusätzlich über ein Nahrungsergänzungsmittel aufzunehmen, heißt es in einer aktuellen DGE-Stellungnahme.
Säuglinge sollen gemäß einer Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) von der ersten Lebenswoche an täglich ein Vitamin-D-Präparat mit 400 bis 500 IE erhalten, um einer Rachitis vorzubeugen. Im zweiten Lebensjahr könne die Prophylaxe während der Wintermonate fortgeführt werden.