Warum Antidepressiva mitunter versagen
Die Depression trifft Menschen, bei denen es unausweichlich scheint: unglückliche Kindheit, Beziehungsprobleme, Stress. Und sie trifft andere. Fast jeder fünfte Deutsche leidet zumindest einmal im Leben unter einer Depression. Ist das der Grund, weshalb moderne Antidepressiva es auf Platz 5 der weltweit am häufigsten verkauften Medikamente geschafft haben?
Aus dem Gedicht einer an Depression erkrankten Frau
Draussen wär‘ Sonne, im Herzen ist Nacht.
Ich teile den Tag mit einer Macht,
die in mir wohnt, die zu mir gehört,
die mein Leben verändert; vielleicht auch zerstört.
Es fehlt mir die Kraft, um aufzustehen
Und die Welt mit meinen Augen zu sehen.
Stunden vergehen – der Tag ist verlebt,
die Seele bleibt mit Schleiern belegt.
Antidepressiva nennt man verharmlosend „Stimmungsaufheller“
„Sie war überhaupt kein trübsinniger Mensch. Sie hat das Leben geliebt, sie war in einer Sambatruppe und hat da rege mitgespielt. Sie hat das Leben geliebt.“
Lothar Schröder über seine Frau Monika Kranz. Es ist im Jahre 2004, da geschieht etwas mit ihr. Sie scheint sich zurückzuziehen. Sie schweigt häufiger als sonst, grübelt. Lothar Schröder ist irritiert, denkt aber gleichzeitig: Das wird schon wieder. Denn es gab Einschnitte im Leben seiner Frau, gerade in letzter Zeit: Ihre einzige Tochter war ausgezogen, hatte in Marburg ein Studium begonnen. Doch dann wird es schlimmer.
„Da hatte dann ihr Hausarzt vorgeschlagen, ein stimmungssteigerndes Mittel am Morgen zu nehmen, um besser in den Tag zu kommen. Das wurde ihr und mir dann als Stimmungsaufheller verkauft. Nicht als Antidepressivum, weil das negativ besetzt ist, sondern als Stimmungsaufheller.“
Der Arzt verschreibt ihr das Mittel Zoloft der Firma Pfizer. Es gehört zur Gruppe der sogenannten selektiven Serotonin Wiederaufnahmehemmer, die Fachleute sprechen kurz von SSRI. Diese modernen Antidepressiva haben einen rasanten Aufstieg hinter sich. Sie gehören mittlerweile zu den Top 5 der weltweit am häufigsten verkauften Arzneimittel. SSRI greifen direkt in den Stoffwechsel von Botenstoffen im Gehirn ein. Insbesondere das so genannte Serotonin wird beeinflusst, nach Ansicht vieler Fachleute eine Art Schalter für die Depression. Monika Kranz versucht es nun mit diesen „Stimmungsaufhellern“.
Starke Nebenwirkungen schon nach einer einzigen Tablette
Lothar Schröder: „Sie hatte damals dann nur eine einzige Tablette von diesem Mittel Zoloft genommen und hatte da so starke Nebenwirkungen bekommen, dass sie es am nächsten Tag sofort abgesetzt hat.“
Sie fühlt sich unruhig, bekommt Schweißausbrüche. Ihr Hausarzt rät ihr am nächsten Tag, Zoloft nicht mehr zu nehmen. Doch Monika Kranz hat bereits viel gelesen, sich informiert. Auch in medizinischen Ratgebern, im Internet.
Lothar Schröder: „Dass in über 70Prozent der Fälle diese Mittel innerhalb von vier Wochen helfen, und dass diese Mittel sicher und verträglich wären und in keiner Weise die Persönlichkeit verändern würden. Und das hatte meiner Frau auch die Kraft gegeben, fatalerweise noch mal einen Versuch mit dem Mittel Zoloft zu machen.“
Aber wieder sind die Nebenwirkungen sehr stark. Sie setzt das Mittel auch auf ärztlichen Rat hin nach einigen Tagen endgültig ab.
„Als ich da nach Hause kam, habe ich schon bemerkt, dass meine Frau sehr bedrückt war. Irgendwie bekam ich da keinen richtigen Zugang zu ihr. Ich habe dann noch versucht, ihr wieder Mut zu machen. Jetzt, wo sie das Medikament nicht mehr nehme, würde es ihr auch bald wieder besser gehen.“
Am nächsten Morgen geht Lothar Schröder wie immer zur Arbeit. Seine Frau liegt noch im Bett, als er das Haus verlässt.
„Dann rief mich gegen Mittag mein Schwager, der neben wohnte, auf der Arbeit an, war vollkommen in Tränen aufgelöst und sagte mir: Ich muss unbedingt schnell nach Hause kommen, weil Monika tot wäre. Das hat mich dann getroffen wie ein Blitz, ein Hammerschlag. Ich wollte dann noch wissen: Was ist denn eigentlich passiert? Ich dachte zuerst an irgendeinen Unfall, Autounfall oder auf der Straße überfahren oder irgendwas. Dann hat er mir schon am Telefon gesagt: Sie hat sich das Leben genommen, sie hat sich umgebracht.“
Für viele Erkrankte sind Antidepressiva nach Meinung von Psychiatern ein Segen
Über kaum eine Medikamentengruppe ist in den letzten Jahren so heftig gestritten worden wie über Antidepressiva. Für viele Erkrankte sind sie nach Meinung von Psychiatern ein Segen. Gerade moderne Mittel wie die SSRI könnten die Stimmung der Patienten nachweislich bessern, glauben sie. Gleichzeitig hätten sie nicht die unangenehme Eigenschaft älterer Antidepressiva, dass sie nämlich die Sinne dämpfen fast wie ein Narkotikum. Dennoch: Ausgerechnet jene modernen Mittel, die so wirksam aus dem Stimmungskeller herausführen sollen, können manche Patienten offenbar noch tiefer hineinstoßen. So mehren sich seit Ende der 90er-Jahre Berichte, dass vor allem junge Patienten Selbstmord begehen – und zwar kurz nach Beginn der Behandlung mit Mitteln vom Typ SSRI. Dass tatsächlich ein solcher Zusammenhang besteht, ist mittlerweile durch mehrere Studien belegt. Ärzte suchen nach Erklärungen, versuchen, die Selbstmorde mit Verhaltensauffälligkeiten in Zusammenhang zu bringen, die sie bei ihren Patienten beobachten.
Schwerste Nebenwirkungen der Antidepressiva
Der Psychiater Bruno-Müller Oerlinghausen: „Diese neuen Antidepressiva haben Eigenschaften, die die alten so nicht hatten. Sie lösen innere und äußere Erregung aus. Das äußert sich in Unruhe, Bewegungsunruhe, in Angst und Schlaflosigkeit. Wir wissen auf der anderen Seite, dass, wenn ein Menschen ohnehin schon Suizid-Ideen hat, dass dann irgendwelche Faktoren von innen oder außen, die zu verstärkter Angst und Erregung in ihm führen, das Risiko erhöhen, dass er sich tatsächlich tötet.“
Antidepressiva und Selbstmord
Von den ersten Warnungen einiger Experten bis zur Anerkennung des Zusammenhangs zwischen der Einnahme von Antidepressiva und erhöhten Selbstmordraten durch Psychiater und medizinische Fachgesellschaften vergingen viele Jahre. Besonders spät kam die Botschaft in Deutschland an. Als Lothar Schröder nach dem Suizid seiner Frau verzweifelt nach Gründen für ihre Tat sucht, denkt er irgendwann auch an das Medikament Zoloft, das sie zuletzt nahm. Ohne allerdings von der international schon entbrannten Diskussion um die SSRI irgendetwas zu ahnen.
„Dann habe ich einfach mal das Medikament in Verbindung mit Suizid, also im englischen „suicide“, einfach mal in Google eingegeben und bin dann auch sofort fündig geworden, was mich auch total schockiert. Ich weiß, meine Frau hatte sich auch im Internet informiert, aber nur auf deutschen Seiten, weil sie nicht so gut in Englisch war, nur auf deutschen Seiten. Und da hatten wir auch drüber gesprochen und da wurde überall stets behauptet, dass diese Medikamente sicher und wirksam seien. Und da habe ich gedacht, das kann doch einfach nicht wahr sein. Warum gibt es in Deutschland denn überhaupt keine Informationen darüber? Ich war geschockt, ich war wütend, ich war fassungslos. Ich war wirklich am Boden zerstört.“
Monika Kranz nahm sich im April 2005 das Leben, indem sie sich von einem Güterzug überrollen ließ. In den USA waren zu diesem Zeitpunkt die Packungen von Zoloft schon mit einem Warnhinweis versehen, das Suizidrisiko sei zumindest bei Jugendlichen erhöht. In Deutschland fehlte so ein Hinweis. Und die Fachgesellschaften waren sich ohnehin einig: Erwachsene sind von der Nebenwirkung Selbstmord nicht betroffen. So schrieb das Kompetenznetz Depression in einer Mitteilung: „Spekulationen, dass SSRI in besonderem Maße die Gefahr der Suizid-Induktion bergen, sind nicht nur nicht belegt, sondern können durch neuere Untersuchungen weitgehend ausgeschlossen werden.“
Entwarnung also? War Monika Kranz einfach ein tragischer Fall?
Sah ihr Mann fälschlicherweise das Mittel Zoloft als Ursache, vielleicht sogar irregeleitet durch Medienberichte? Die Diskussion sollte deshalb auch in Fachkreisen mit der notwendigen Sensibilität geführt werden und nicht zu schnell in die nach Skandalen jagende Laienpresse übertragen werden.
Stimmungskiller statt Stimmungsaufheller?
Professor Hans-Jürgen Möller, Universitätsklinikum München. Tatsache ist: Monika Kranz hat von ihrem Antidepressivum nicht profitiert. Allem Anschein nach wirkte es bei ihr als Stimmungskiller. Aber wie kann ein Medikament das auslösen, was es eigentlich verhindern soll? Was weiß die Forschung tatsächlich über die Wirkung der Antidepressiva? Was weiß sie über die Ursachen der Depression?
Universität München, Klinik für Psychiatrie. Von den hohen Fluren des Gründerzeitbaus gehen in den unteren Stockwerken die Krankenzimmer der Notfallambulanz ab. Dort liegen auch schwer an Depression erkrankte Patienten, zum Teil sind sie suizidgefährdet. Doch hier im 4. Stock ist es anders. „Das ist unser Hauptlabor für die genetischen Untersuchungen. Schaun mer mal.“
Keine Patienten in den Zimmern, dafür viele blinkende Kästen und Maschinen. Es ist das typische Inventar eines molekularbiologischen Labors. Dr. Peter Zill leitet hier die Forschungsarbeiten.
Sein Ziel: die Suche nach Depressionsgenen
„Also im Wesentlichen ist es so, dass wir Blutproben bekommen von Patienten, entweder hier aus der Klinik oder im Rahmen von Multicenter-Studien von anderen Kliniken. Aus diesen Blutproben wird hier DNA isoliert, also die menschliche Erbsubstanz und dann versuchen wir im Wesentlichen auf dieser DNA uns bestimmte Bereiche anzuschauen, wo des öfteren Variationen beschrieben sind, dass diese Gene in unterschiedlichen Formen auftreten und wir versuchen mit verschiedenen Methoden dann diese Variationen nachzuweisen.“
Die entscheidende Frage ist: Sind die Gene von Depressiven anders?
Ist die wahre Ursache für die Erkrankung ein verändertes, also mutiertes Gen? Und wenn ja, welches Gen könnte es sein? Peter Zill recherchiert in wissenschaftlichen Datenbanken und in der Literatur nach schon bekannten biochemischen Ursachen der Depression. Nach Ansicht der meisten Forscher ist ein Stoff der Schlüssel zum Verständnis der Erkrankung: Das Serotonin, ein Botenstoff, der die Aktivität von Nervenzellen beeinflusst. Und so mancher Forscher hat die Depression bereits auf die einfache Formel gebracht:
Depression ist Serotoninmangel im Gehirn
Deshalb würden ja auch die Antidepressiva wirken. Gerade die „Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer“, also die SSRI, heben nämlich den Serotoninspiegel im Gehirn, ein Serotoninmangel wird also ausgeglichen. So wirken neben Zoloft auch Medikamente wie Fluctin von Lilly, Fevarin von Solvay oder Cipramil von Lundbeck.
Peter Zill bedient jetzt eine Maschine, die aus dem Erbgut eines Patienten praktisch ein einzelnes Gen herausfischen kann. Zill sucht nach einem speziellen Gen. Es spielt eine wichtige Rolle bei der Produktion des Serotonins im Körper und heißt Tryptophan-Hydroxylase-Gen. Es ist Teil der Serotonin-Fabrik. Funktioniert die Tryptophan-Hydroxylase nicht richtig, wird zu wenig Serotonin hergestellt. Peter Zill drückt einige Tasten, dann erscheint auf dem Bildschirm des angeschlossenen Computers das Ergebnis.
„Das ist die Darstellung der verschiedenen Genotypen. Es gibt den sogenannten Wildtyp, das ist der Ausgangsgenotyp, dann gibt es den veränderten Genotyp, das ist praktisch die mutierte Form und dann gibt es von beiden eine Mischform, also je nachdem wie das Individuum diese Allele von den Eltern vererbt bekommen hat.“
Die Ergebnisse waren zunächst vielversprechend
Und tatsächlich: Im Erbgut dieses schwer depressionskranken Patienten findet sich ein verändertes Tryptophan-Hydroxylase-Gen. Es entspricht nicht der Normalversion oder dem „Wildtyp“ wie die Genetiker sagen. Könnte es sein, dass bei diesem Patienten die Fabrik für das Serotonin defekt ist? Und dass er deshalb eine Depression bekam? Peter Zill wollte genau diesen Zusammenhang wissenschaftlich beweisen. Er konzentrierte sich dabei auf schwer an Depression erkrankte Menschen, isolierte aus Blutproben die Erbsubstanz DNA. Darüber hinaus überließ ihm die Rechtsmedizin sogar Gewebeproben von 15 Selbstmördern zur DNA-Analyse. Die Ergebnisse waren zunächst vielversprechend: Tatsächlich traten einige Genvarianten bei den Betroffenen gehäuft auf. Hatte Zill damit den Schalter gefunden, der Serotonin an- und ausknipst – und damit die Depression?
Ganz so einfach ist es doch nicht
„Das wäre natürlich die gewünschte Vorstellung, aber leider ist es nicht so. Es kommt häufiger vor, dass man völlig widersprüchliche Ergebnisse bekommt zur eigenen Grundvorstellung, die man hatte. Ist natürlich klar, diese Erkrankungen haben eine unglaublich große Heterogenität, da spielen so viele Faktoren eine Rolle, wahrscheinlich greifen die alle ineinander, beeinflussen sich gegenseitig – ja, es wäre zu schön, aber so einfach kann man es doch nicht erklären.“
Eine Enttäuschung für Peter Zill. Bestimmte Genvarianten kommen bei einigen Patienten zwar häufiger vor, bei anderen aber wiederum nicht. Noch enttäuschender: Die auffälligen Gene erniedrigen keineswegs alle den Serotoninspiegel. Nicht zuletzt aufgrund solcher Ergebnisse zweifeln viele Wissenschaftler mittlerweile daran, dass Serotonin der Depressionsschalter ist. Aber wie ist der Botenstoff überhaupt in diese Rolle geraten? Dazu muss man die Vorgeschichte kennen, sagt der Psychiater Professor Jürgen Fritze: „Vor 50 Jahren wurden zufällig Wirkmechanismen für Antidepressiva entdeckt – eine rein zufällige Entdeckung.“
Ärzte machten die merkwürdige Beobachtung, dass Tuberkulosepatienten mitunter sehr fröhlich waren, besonders, wenn sie ein Tuberkulosemittel namens Iproniazid schluckten. Nachfolgende Analysen ergaben dann, dass Iproniazid den Pegel mehrerer Botenstoffe im Gehirn erhöht, darunter Noradrenalin, Dopamin – und eben Serotonin.
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer als Versuch und nicht als Ergebnis klarer Forschung
Fritze: „Und warum jetzt das Serotonin ins Spiel gekommen ist, liegt wiederum daran, dass im Bemühen, verträglichere Antidepressiva zu entwickeln, die pharmazeutische Industrie gesagt hat: Jetzt fokussieren wir mal auf diese Serotonin-Wiederaufnahmehemmer.“
Das war kein besonders planvolles Vorgehen, sondern ein Versuch. Ein erfolgreicher Versuch, denn die entsprechenden Medikamente sind die SSRI. Mit ihnen begann die Karriere des Serotonins als „Depressionsschalter“. Diese Theorie hatte ihren Charme, allein schon, weil sie so einfach war. Wohl zu einfach. Das legt jetzt auch ein Ergebnis der Universität Cleveland nahe.
Pedro Delgado reichte dort Cocktails: Freiwillige Probanden sollten ein Gemisch aus Aminosäuren trinken. Das sind die Bausteine, die Körper braucht, um Eiweiße aufzubauen. Direkt nach dem ersten Schluck ging es los. Im Körper der Freiwilligen knüpfte sich Aminosäure an Aminosäure, lange Eiweiß-Ketten entstanden, das Haut- und Haareiweiß Keratin zum Beispiel. Nur Serotonin war nicht dabei, denn dafür braucht der Körper die Aminosäure Tryptophan, und die fehlte in dem Gebräu. Die Serotonin-Produktion stockte also und schon fünf Stunden nach dem ersten Schluck ging der Serotonin-Spiegel endgültig in den Keller. Was würde jetzt passieren?
Veränderte sich die Stimmung der Testpersonen?
Würde sogar eine Depression ausgelöst? Die Antwort war: Ja und nein. Empfindlich reagierten Probanden, die schon einmal wegen einer Depression in Behandlung waren. Sie gaben tatsächlich ein Absinken der Stimmung zu Protokoll, eine Art Depressions-Attacke. Aber nur sie. Gesunde Probanden spüren dagegen nichts. Der Serotoninentzug hatte nicht den geringsten Einfluss auf sie. Auch dieses Ergebnisse macht deutlich: Die Theorie „Serotonin hoch – Depression weg“ ist nicht länger haltbar. Und das wirft auch ein anderes Licht auf die Medikamente, die nach dieser einfachen Formel funktionieren sollen.
Lothar Schröder ist zum Experten geworden in Sachen Depression. Er liest Originalstudien über die Wirkung von Antidepressiva. Der gelernte Mathematiker rechnet statistischen Aussagen über ihre Wirksamkeit noch einmal durch. Und über Nebenwirkungen – vor allem Suizid. Nach wie vor sagen viele Experten: Jugendliche sind gefährdet, Erwachsene nicht.
„Für mich ist das reiner Mumpitz. Ich glaube, das macht aus ärztlicher Sicht auch überhaupt keinen Sinn, zu sagen: Jugendliche und junge Erwachsene, da besteht ein erhöhtes Risiko und bei älteren Patienten hat das sogar noch einen gegenteiligen Effekt.“
Und was denken Ärzte über solche Fälle?
Könnten diese Tabletten mit den Namen Zoloft, Seroxat oder Fluctin für Suizide bei Erwachsenen verantwortlich sein? Professor Jürgen Fritze, Psychiater und gesundheitspolitischer Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, macht es kurz: „Bei Erwachsenen jenseits des 25. Lebensjahres gibt es keine statistischen Hinweise.“
Ein anderer Arzt ist vorsichtiger
Professor Bruno Müller-Oerlinghausen ist Psychiater. Und er ist Mitglied der Arzneimittelkommission. Dieses Gremium hat die Aufgabe, Arzneimittel unabhängig zu bewerten. Die Arzneimittelkommission sammelt Berichte über Nebenwirkungen und sie hat die Aufgabe, Ärzte zu beraten.
„Wir haben eine ganze Reihe von Publikationen in der wissenschaftlichen Literatur, die dafür sprechen, dass das Risiko größer ist bei Erwachsenen bis 25 Jahre und deutlich geringer wird bei älteren Erwachsenen, aber wir haben in unserer eigenen Arbeitsgruppe Fälle gesammelt, die genau das nicht zeigen. Das Durchschnittsalter derjenigen, die hier suizidale Gedanken hatten, lag zwischen 40 und 50.“
Antidepressiva und Selbstmord – offenbar gibt es keine Einigkeit innerhalb der Ärzteschaft.
Aber es ist interessant, die Entwicklung der Diskussion zu betrachten. Erste Berichte über ein erhöhtes Suizidrisiko bei Jugendlichen gab es schon in den 1990er-Jahren. Sie wurden in der Fachwelt weitgehend ignoriert, erst recht von den Pharmaherstellern. Dann, 2004, war die Datenlage so eindeutig, dass Behörden erstmals offiziell vor der Suizidgefahr bei Jugendlichen warnten. Mittlerweile haben die Hersteller der SSRIs die Altersgrenze für die Nebenwirkung Suizid in der Arzneimittelinformation sogar auf 25 Jahre heraufgesetzt. Die Fachgesellschaften warnen jetzt aber davor, deshalb auf Antidepressiva zu verzichten.
Jürgen Fritze: „Es ist gut, weiter da zu forschen, sprich, der Aufruf der Arzneimittelkommission, so wie es vorgeschrieben ist, zu melden, wenn bei Erwachsenen unter Antidepressiva suizidale Phänomene auftreten, ist gut und richtig. Und jetzt kommt das Aber. Seit einigen Jahren ist die öffentliche Wahrnehmung dahingehend gekippt: Lasst die Chemie bei psychischen Erkrankungen vom Menschen weg. Es wird also eine bestimmte Einstellung, Emotion geweckt. Da kann ich jetzt nur sagen: Schön dämlich. Denn es werden Chancen dadurch vorenthalten.“
Chancen, die schwere Erkrankung durch wirksame Medikamente heilen zu können? Wirklich heilen?
Sind Antidepressiva wirksam? Ist ihr Nutzen so groß, dass er die bekannten Risiken überwiegt?
Durch die Glasfassade des hochmodernen Bürogebäudes sieht man auf Bahndämme, Schuttfelder und Industriebrachen. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen hat seinen Sitz in einem alten Kölner Industrieviertel. Strukturwandel nennt man heute solche Gegensätze. Und auch das kurz Iqwig genannte Institut steht für einen Wandel. Denn es ist die erste öffentliche Einrichtung, die Arzneien auf ihren Nutzen prüfen soll. Das Iqwig ist eine Art Medizin-TÜV, unabhängig von der Industrie und anderen Lobbygruppen. Labore und Menschen in weißen Kitteln sucht man im Iqwig vergebens. Denn die Prüfungen laufen ab als reine Datenbankrecherche. Gesucht wird nach sämtlichen medizinischen Studien, die weltweit über das zu testende Medikament verfügbar sind. Zurzeit auf dem Prüfstand: Antidepressiva.
„Ich habe hier die Datenbank jetzt geöffnet, ich gehe in die Suchmaske, die mir ermöglicht, nach verschiedenen Kriterien diese Datenbank zu durchsuchen. Ich kann also nach einem Medikamentennamen suchen, ich kann nach einer Krankheit suchen, ich kann mir Studien anzeigen lassen, die abgeschlossen sind und solche, die noch laufen.“
Dr. Beate Wieseler ist Leiterin des Projekts Antidepressiva. Sie prüft eine neue Gruppe namens SNRI. Die werden zwar nicht so häufig verschrieben wie die SSRI. Aber sie heben neben dem Serotonin auch gleichzeitig den Spiegel des Botenstoffs Noradrenalin.
„Ich gebe hier jetzt hier zum Beispiel mal den Medikamentennamen Reboxetin ein. Und die Datenbank zeigt mir, dass 25 Studien zu Reboxetin aufgelistet sind, zu den einzelnen Studien ist dann Detailinformation enthalten. Und auf Basis dieser Detailinformationen entscheiden wir, ob die Studie geeignet ist, eine Aussage zur Wirkung von Reboxetin zu machen.“
In der Theorie können die Pharmaprüfer sich so ein umfassendes Bild über die Wirkung eines Medikaments verschaffen. Voraussetzung: Sämtliche Studien, die zur Wirksamkeit des Medikaments durchgeführt wurden, stehen auch tatsächlich zur Verfügung – auch jene der Hersteller selbst. Doch häufig sind diese nicht sehr kooperativ.
Wieseler: „Wir hatten ein Medikament, das Reboxitin, wo das ganz besonders problematisch war. Der Hersteller dieses Medikaments, Pfizer, hat uns während der Bewertung nicht alle Studien zur Verfügung gestellt. Wir konnten den Nachweis erbringen, dass eine relevante Menge von Daten für unsere Bewertung nicht zur Verfügung stand.“
So gut wie alle Medikamententests, die an freiwilligen Patienten durchgeführt werden, sind Studien der Herstellerfirmen: also bezahlt und geleitet von Pfizer, Glaxo Smith Kline, Lilly oder anderen. Und diese Hersteller wollen, dass ihr Medikament ein Verkaufsschlager wird.
Wieseler: „Es ist nämlich in der Regel so, dass positive Studien, also solche, die erwünschte Wirkungen zeigen, veröffentlicht werden, während negative Studien, also solche, die keine Wirkung zeigen oder vielleicht sogar unerwünschte Wirkung, später oder gar nicht veröffentlicht werden.“
Studien der Pharmaindustrie: Lügen durch Verschweigen
Das Problem ist altbekannt. Und für den Chef des Iqwig, Professor Peter Sawicki ist es schlicht ein Skandal.
„Im schlimmsten Fall macht man zehn Studien, bei acht kommt gar nichts raus, vielleicht sogar was Negatives und publiziert nur die beiden, wo unter Umständen nur durch Zufall ein positives Ergebnis herauskam. Das ist Lügen durch Verschweigen.“
Und das alles hat Methode, besonders im Fall der Antidepressiva, wie im vergangenen Jahr das renommierte Fachblatt „New England Journal of Medicine“ aufdeckte. Die Autoren wollten recherchieren, wie groß die Auswirkungen dieses Publizierens nach Gutdünken wirklich sind. Sie baten dabei die amerikanische Zulassungsbehörde FDA um Hilfe. Und sie bekamen über die FDA tatsächlich Zugang zu vielen Studien, die die Hersteller bisher unter Verschluss gehalten hatten. Jetzt verglichen sie die Ergebnisse der veröffentlichten und der unveröffentlichten Firmenstudien: 94 Prozent der veröffentlichten Studien bescheinigen den Produkten, dass sie wirksam sind. Nahm man dagegen veröffentlichte und unveröffentlichte Studien zusammen, sprachen gerade einmal 51 Prozent der Studien für die Wirksamkeit der Antidepressiva. Mit anderen Worten: Nur in jeder zweiten Studie, die von den Herstellern selbst durchgeführt wurde, zeigen Antidepressiva überhaupt eine nachweisbare Wirkung.
Antidepressiva sind eine sehr schwach wirksame Substanzgruppe
Bruno Müller-Oerlinghausen von der Arzneimittelkommission: „Antidepressiva sind, wie wir eigentlich schon seit längerer Zeit wussten, aber wozu wir jetzt genauere Zahlen haben, eine sehr schwach wirksame Substanzgruppe. Kann man nicht vergleichen mit Penicillin beim Scharlach oder Haloperidol bei einem erregten Psychotiker. Antidepressiva haben schwache Wirkungen. Sie haben Wirkungen, zumindest bei schwer kranken Patienten, die Wirkung ist aber auch ganz schlecht voraussagbar. Wir wissen praktisch nie, ob das jeweilige Antidepressivum, das wir geben, bei diesem Patienten ansprechen wird oder nicht. Schon das ist eine sehr unbefriedigende Situation.“
Schwach wirksam bedeutet leider nicht, dass auch die Nebenwirkungen schwach sind.
Antidepessiva sind Blockbuster für die Pharmas
Bleibt die Frage: Warum diese Verkaufszahlen? Warum dieser unaufhaltsame Aufstieg der Mittel in die Spitzengruppe der weltweit am meisten verkauften Medikamente?
Müller-Oerlinghausen: „Die Marketing-Strategien der Hersteller dieser Antidepressiva sind faszinierend wirksam.“
Viele hochrangige Ärzte haben Kontakte zur Industrie, die in ihrem Ausmaß über das rein Fachliche hinausgehen. So findet sich in der Juni-Ausgabe des Fachblatts „Der Kassenarzt“ ein Interview mit Professor Jürgen Fritze, Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. Dort lobt er die Vorzüge eines bestimmten, neueren Wirkstoffs Escitalopram. Am Ende des Textes sind dann die Zeilen zu lesen: „Mit freundlicher Unterstützung der Lundbeck GmbH“ – eine Firma, die Medikamente mit genau diesem Wirkstoff herstellt.
„Deshalb sei betont: Mir wurde ein Honorar angeboten, ich habe das Honorar abgelehnt, bevor ich das Interview gegeben habe“, sagt Jürgen Fritze.
Dennoch: Worin besteht sie dann, die „freundliche Unterstützung“? Müller-Oerlinghausen kennt zweifelhafte Fälle zuhauf: „Man muss da nicht gleich von Bestechung oder Korruption sprechen, so ist das nicht, aber die Nähe vieler einflussreicher Kollegen und Kolleginnen zu der pharmazeutischen Industrie zeigt ihre Wirkung.“
Eine schwache Wirkung ist besser als gar keine Wirkung
Die psychiatrischen Fachgesellschaften sehen sich dagegen zu Unrecht unter Verdacht und argumentieren: Antidepressiva sind unverzichtbar. Denn eine schwache Wirkung ist besser als gar keine.
Der Psychiater Jürgen Fritze: „Ist das Glas halb voll oder ist es halb leer? Die öffentliche Meinung meint zunehmend, das Glas ist halb voll. Aber was ist die Alternative?“
Tatsächlich ist der Placeboeffekt bei der Behandlung der Depression nachweislich sehr groß, dass heißt: Wenn der Patient glaubt, er bekomme ein wirksames Medikament, ist das allein schon ein wichtiger Baustein für die Therapie. Verteufelung ist daher fehl am Platze. Dennoch: Die Erfolgsbilanz ist dürftig. Die offizielle Statistik, die von ärztlichen Fachgesellschaften nicht bestritten wird, sagt: Man muss zehn Patienten mit Antidepressiva behandeln, um bei einem einen Heilungserfolg zu erzielen. Einer von zehn. Eine Information, die kaum ein Patient je von seinem Psychiater erhält.
Peter Sawicki vom Iqwig: „Was ich für bedenklich halte, dass wir uns bei der Therapie der Depression vor allem auf Pillen verlassen. Es ist ja gar nicht gesagt, dass die Pillen da unbedingt die beste Lösung sind. Es könnte auch sein, dass soziale Kontakte für die Menschen von Bedeutung sind. Es könnte auch sein, dass nichtmedikamentöse Behandlungsformen, Massage, dass bestimmte Verhaltensweisen eine Rolle spielen, Musik, weiß ich nicht. Also es sind viele Dinge vorstellbar, mit denen man kein Geld verdienen kann oder zumindest nicht viel.“
Vielleicht bekommt die Diskussion um Antidepressiva in Kürze eine Wendung. Denn das Iqwig soll den Nutzen der SSRI untersuchen. Wann genau der Bericht herauskommt, ist noch offen. Seine Tragweite wird aber groß sein. Denn sollte der Nutzen dieser am häufigsten verschriebenen Antidepressiva aus Sicht des Iqwig nicht belegt sein, könnten die Krankenkassen die Weisung bekommen, sie aus dem Leistungskatalog zu streichen. Das wäre ein Anlass, über Alternativen nachzudenken.
Alternativen, wie auch Lothar Schröder fordert: „Man sollte überlegen, ob es neben der Medikation auch noch eine weitere Behandlungsmöglichkeit gibt, vielleicht dann eher die Psychotherapie verstärken. Und wenn man sich doch entscheidet, ein Medikament zu nehmen, dann sollte der Patient verdammt noch mal über alle Risiken aufgeklärt werden und auch die Angehörigen und es sollten sämtliche Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden, um diese gravierenden Nebenwirkungen zu verhindern.“
Der vierte Herbst, seit Monika Kranz tot ist
Was bleibt ist die Hoffnung, dass irgendwann
Ich zu mir finden und froh sein kann.
Ich bleibe liegen, weil ich nicht mag.
Heute ist wieder ein Schattentag.