Chemotherapie – Giftkur ohne Nutzen?
Immer ausgefeiltere und teurere Zellgifte werden schwer kranken Patienten mit Darm-, Brust-, Lungen- oder Prostatatumoren verabreicht. Nun hat ein Epidemiologe die Überlebensraten analysiert. Sein Befund: Allen angeblichen Fortschritten zum Trotz leben die Kranken keinen Tag länger.
An Heiligabend wurde Erika H. ins Prosper-Hospital Recklinghausen eingeliefert. Die Ärzte schnitten einen bösartigen Tumor aus ihrem Darm und entfernten die Milz. Anfang August entdeckten sie dann Metastasen. Am Dienstag vergangener Woche erhielt die 64-jährige Hausfrau ihre erste Chemotherapie. Gelöst in einer klaren Flüssigkeit strömten zwei Zellgifte durch einen Infusionsschlauch in ihre Vene. „Das ist immer noch wie ein Alptraum für mich. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal Krebs habe“, sagt Frau Meyer. „Aber ich hoffe, dass es besser wird. Die sind ja immer weiter mit der Chemotherapie.“
Im Klinikum Großhadern der Universität München arbeitet einer, der diesen Optimismus nicht teilen kann.
„Was das Überleben bei metastasierten Karzinomen in Darm, Brust, Lunge und Prostata angeht, hat es in den vergangenen 25 Jahren keinen Fortschritt gegeben“, sagt der Epidemiologe Dieter Hölzel, 62. Er hat zusammen mit Onkologen die Krankengeschichten Tausender Krebspatienten dokumentiert, die in und rund um München seit 1978 nach dem jeweiligen Stand der Medizin behandelt wurden. Die Menschen litten im fortgeschrittenen Stadium an einem der vier Organkrebse. Mit jährlich etwa 100000 Todesopfern allein in Deutschland sind diese Tumorarten die großen Killer.
Gerade für Menschen mit Metastasen gilt die Chemotherapie als Behandlung der letzten Wahl, wenn sich die verstreuten Tochtergeschwulste mit Strahlen und Skalpellen nicht mehr erreichen lassen. Seit Jahrzehnten werden immer neue Zellgifte eingesetzt. Oftmals verlangen die Arzneimittelhersteller dafür astronomisch hohe Preise.
Im Austausch versprechen sie ein längeres Leben
„Chance für Lebenszeit!“ heißt es etwa auf einem drei Meter großen Werbeplakat für das Krebsmittel „Taxotere“. Der Hersteller eines Konkurrenzpräparats wirbt unter dem Motto: „Taxol – dem Leben eine Zukunft geben“. Und auch Erika Meyers Arzt in Recklinghausen gibt sich zuversichtlich: Die Chemotherapie habe sich in den vergangenen 20 Jahren deutlich verbessert, sagt der niedergelassene Onkologe Friedrich Overkamp, 47. Es ließen sich „beträchtliche Lebensverlängerungen“ erreichen.
Die neuen Zahlen des Krebsregisters der Universität München indes bestätigen das nicht. Heutige Patienten versterben genauso schnell an Krebs wie ihre Leidensgenossen vor 25 Jahren. Während die Kurve für Darmkrebs eine geringfügige Besserung zeigt, ist die Überlebensrate für Brustkrebs im Laufe der Jahre sogar gesunken. Wahrscheinlich, meint Hölzel, handele es sich nur um zufällige Schwankungen ohne Aussagekraft; aber selbst noch Schlimmeres hält er nicht für ausgeschlossen: „Ich befürchte, dass die systematische Ausweitung der Chemotherapie gerade bei Brustkrebs für den Rückgang der Überlebensraten verantwortlich sein könnte.“
Die Aussage des Epidemiologen gilt ausdrücklich nicht für die medikamentöse Therapie von Lymphkrebsarten, Morbus Hodgkin, Leukämien, Sarkomen und Hodenkrebs. Diese Krankheiten können inzwischen in vielen Fällen auf geradezu spektakuläre Weise geheilt werden.
Ebenso wenig gilt Hölzels Verdikt für jene Chemotherapien, die vor einem chirurgischen Eingriff die Geschwulst verkleinern oder nach der Operation die verbliebenen Krebszellen zerstören sollen. Düster hingegen lese sich die Bilanz bei soliden Tumoren im fortgeschrittenen Stadium, sagen erfahrene Kliniker.
Gerhard Schaller, 52, Gynäkologe von der Universität Bochum, konstatiert:
„Für das Überleben von Frauen mit fortgeschrittenem Brustkrebs hat die Chemotherapie bisher praktisch nichts gebracht – viel Lärm um nichts.“
Doch leben diese dank Chemotherapie überhaupt länger?
Die entscheidende Vergleichsstudie wurde nie durchgeführt. Wahrscheinlich wird sich die Frage gar nicht mehr beantworten lassen. In klinischen Studien vergleichen die Hersteller stets nur neue mit alten Zellgiften; Kontrollgruppen, die gar nicht behandelt werden, gibt es nicht. Um auf dem Markt zugelassen zu werden, reicht es, an einer kleinen Schar handverlesener Testpersonen irgendeinen Vorteil gegenüber einem bereits zugelassenen Zellgift „statistisch signifikant“ erscheinen zu lassen.
Die Mittel, um die es dabei geht, sind alles andere als harmlos. Manche der frühen Chemotherapeutika rafften binnen wenigen Wochen etliche Patienten dahin und waren auf dem Markt nicht zu halten. Aber auch die anderen Giftgaben bedeuteten vielfach, lebendig durch die Hölle zu gehen. Die Menschen verloren die Haare und den Appetit, mussten sich übergeben, waren abgeschlagen und wurden von Entzündungen geplagt. Zudem keimte bei einigen Medizinern langsam der Verdacht, dass die so gepriesenen Zytostatika womöglich gar nicht mehr konnten, als Metastasen vorübergehend schrumpfen zu lassen.
Im September 1985 erklärte der inzwischen verstorbene Klaus Thomsen, damals seit zwei Jahrzehnten Direktor der Gynäkologie der Universitätsidinik Hamburg-Eppendorf, auf einem internationalen Kongress in Berlin: „Es sollte uns nachdenklich stimmen, wenn eine zunehmende Zahl von Ärztinnen und Ärzten sagt: An mir würde ich eine solche Therapie nicht vornehmen lassen.“
Zehn Jahre später war es dann der Epidemiologe Ulrich Abel von der Universität Heidelberg, der den Nutzen der Chemotherapie in Zweifel zog. Ein Jahr lang hatte der Wissenschaftler mehrere tausend Publikationen zur Chemotherapie gesichtet . Erschüttert stellte er fest, dass „bei den meisten Organkrebsen keinerlei Belege dafür existieren, dass die Chemotherapie – speziell auch die immer mehr um sich greifende Hochdosistherapie – die Lebenserwartung verlängert oder die Lebensqualität verbessert“.
Namhafte Onkologen stimmten dem Verdikt zu – die Ausbreitung der Chemotherapie konnte das nicht stoppen.
Wohl nicht zuletzt, weil die Ärzte ihren Patienten nicht eingestehen wollen, dass sie dem Krebs gänzlich wehrlos gegenüberstehen, ist die Giftkur zu einem Dogma der Medizin geworden.
Früher schwächten die Zellgifte die Patienten dermaßen, dass sie im Krankenhausbett überwacht werden mussten. Nun liegen Mittel gegen Haarausfall, Brechreiz, Appetitlosigkeit, Durchfall und Verstopfung bereit; viele Chemotherapien können inzwischen sogar ambulant durchgeführt werden, und die Menschen müssen kaum mehr spucken. „Deshalb“, erklärt der Recklinghäuser Onkologe Overkamp, „konnte ich in meiner Praxis auch Teppich verlegen.“ Jedes Quartal verschreibt Overkamp seinen 1100 Krebspatienten Medikamente im Wert von etwa 1,5 Millionen Euro. Bundesweit summierte sich der Umsatz der Zytostatika zwischen August 2003 und Juli 2004 auf 1,8 Milliarden Euro -ein Plus von 14 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Antikörper, die Krebszellen gezielt erkennen können, sind die neuesten Preistreiber. Und wieder sehen die Hersteller einen Durchbruch – doch eindeutige Belege, ob das Leben unheilbar kranker Krebspatienten verlängert werden kann, fehlen auch hier. Die Konkurrenz durch die neuen Antikörper führt unterdessen dazu, dass altbekannte Zellgifte umso aggressiver in den Markt gedrängt werden.
Gern zitiert wird auch ein Befund, den Forscher der University of Texas in Houston im August 2003 vorgelegt haben. Die Fünf-Jahres-Überlebensrate von Frauen mit metastasiertem Brustkrebs hat sich demnach in den Jahren 1974 bis 2000 kontinuierlich verbessert: von 10 Prozent auf 44 Prozent. Ihren Artikel garnieren sie mit einer Übersicht über all jene Zytostatika, die den sagenhaften Fortschritt angeblich möglich machten. Bloß: In der Studie werden Frauen mit und solche ohne Metastasen miteinander verglichen. „Die Gruppen aus jüngerer Zeit waren verzerrt durch Patientinnen mit günstigeren Prognoseprofilen“, räumen die Autoren des Jubelartikels in einem versteckten Satz ein.
„Es gibt überhaupt keine systematische Dokumentation, das ist der große Mangel der Krebsmedizin“, klagt Hölzel angesichts solcher Trickforschung. Mit seiner Forderung nach sauberen wissenschaftlichen Belegen dürfte Kritiker Hölzel die Branche indes kaum aufrütteln. Denn die kommt schließlich auch ohne den Nachweis eines Nutzens für sterbenskranke Krebspatienten ganz gut zurecht.