Ohrgeräusche (Tinnitus) – Zum Nachdenken
Weit über sechs Millionen Bundesbürger leiden unter Tinnitus
Ein Aufsatz von Rüdiger Dahlke
Lange Zeit kaum ernst genommen, haben sich die Ohrgeräusche inzwischen zu einer wahren Epidemie gesteigert. Weit über sechs Millionen Bundesbürger leiden und verzweifeln nicht selten daran. Wenn ein Symptom solche Ausmaße in einer Gesellschaft annimmt, muß es mit den Lebensstrukturen in dieser Gesellschaft eng zusammenhängen, umso mehr, wenn es in so kurzer Zeit eine solche Zunahme erfährt.
Wir könnten uns fragen, was synchron mit den Ohrgeräuschen zugenommen hat?
Betrachten wir das Krankheitsbild des einzelnen Patienten, müßten wir daran Grundsätzliches erkennen können für diese Zeit und Gesellschaft, entsprechend der Paracelsus Auffassung, daß jedem Krankheitsbild eine bestimmte Umgebung entspricht und eben auch jede Umgebung, dazu neigt, besondere Krankheitsbilder hervorzubringen.
Mit den über sechs Millionen Tinnituspatienten haben wir eine riesige noch immer schnell wachsende Gruppe von Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschen als innere Ruhe. Sie sind lärmgestört in einem Ausmaß, daß sie irritiert, ihre Lebensfreude massiv einschränkt, wenn nicht gar völlig blockiert und sie teilweise geradezu behindert.
Schon bei dieser recht äußerlichen Betrachtung fällt auf, daß es natürlich noch weit mehr Menschen gibt, die unter Lärm leiden, wenn auch nicht innerlichem, sondern äußerem. Große Teile der Stadt- und insbesondere der Großstadtbewohner müssen wir wohl hierher rechnen. Diejenigen, die sich diesen störenden Lärm in ihrer Umgebung bewußt machen, die merklich darunter leiden und versuchen, sich davor zu schützen, sind es wohl, die noch am wenigsten davon zu befürchten haben.
Diejenigen aber, die den Lärm schon gar nicht mehr wahrnehmen, sich scheinbar daran gewöhnt haben, sind es vor allem, denen er erst über ein Symptom wieder zu Bewußtsein gebracht werden muß. Schaden nimmt der Mensch nämlich, wie verschiedene Untersuchungen zeigen, auch dann noch vom Lärm, wenn er diesen gar nicht mehr bewußt wahrnimmt und folglich auch nicht mehr bewußt darunter leidet. Wir leben ganz offenbar in einer höchst lärmgeplagten Zeit, deren Lärmpegel noch immer rasend zunimmt. Trotzdem scheinen wir es kaum zu bemerken, was da um uns abläuft.
Bei Kühen ist es inzwischen untersucht und belegt, daß sie sich in harmonischer Armosphäre mit guter Musik sanft beschallt, so wohl fühlen, daß sie deutlich mehr Milch geben. Von Menschen ist ebenfalls bekannt, daß sie sich in ruhiger Atmosphäre besser entwickeln können, nur folgt aus diesen Erkenntnissen bisher wenig. Der Protest gegen geradezu unmenschliche Lärmbelästigungen ist verhältnismäßig gering. Nicht nur brandet der Krach eines unbeherrschbar gewordenen Individualverkehrs fast ständig an die Ohren vieler Menschen, die Arbeitswelt wird lauter und selbst die Freizeitbeschallung steigt in verblüffendem Ausmaß bis zu Techno“klängen“, die sich nur noch schwer vom monotonen Geräuschpegel lärmender Industriemaschi-nen unterscheiden lassen.
Der Zusammenhang zwischen Lärm und Tinnitus ist unüberhörbar
Der Zusammenhang zwischen Lärm und Tinnitus ist so unüberhörbar, daß ihn selbst die Schulmedizin aufgespürt hat. Bei über der Hälfte der Patienten beschuldigt sie äußeren Lärm als Ursache für den inneren.
Bei annähernd 100 % der Patienten wird ein Zusammenhang mit unbewältigtem Streß gefunden. Streß ist inzwischen ein schwammiger Begriff, der als Ursache für alle Übel der modernen Zeit herhalten muß. Der ursprüngliche Begriff von Selye war differenzierter und kannte noch die Polarität, d.h. Selye unterschied noch zwischen lebensförderlichem und lebensbehinderndem Streß. Heute ist diese Differenzierung dagegen verloren gegangen. Der Begriff ist gänzlich ins Negative abgerutscht und markiert gerade noch den Bereich, bis zu dem sich die Schulmedizin in das Feld der Psychosomatik vorwagt.
Wenn gar nichts greifbar Materielles als Ursache in Frage kommt, muß es der Streß gewesen sein.
Wer aber ist das in Wirklichkeit? Hier können uns die Tinnituspatienten in ihrem Leid den Weg weisen. Innere Töne müßten uns nämlich nicht unbedingt stressen. Die Sphärenmusik etwa, nach der Keppler und Goethe sich sehnten, setzt sich ebenfalls aus Tönen zusammen und diese ergeben in ihrem Zusammenspiel etwas Harmonisches, eben Musik. Manche Meditationsrichtungen meditieren auf innere Töne hin und erstreben sie als Zeichen geistig-seelischer Entwicklung.
Ganz anders der Tinnituspatient, dessen Tönen die Harmonie fehlt, sodaß man sie als Geräusche bezeichnen muß, Geräusche, die zusammengenommen keine Musik, sondern scheußlichen Krach ergeben. Der entscheidende Unterschied liegt in der fehlenden Harmonie. Tinnituspatienten sind aus der Harmonie gefallen und ihr Symptom macht es ihnen lediglich bewußt, geschehen ist der Sturz aber bereits viel früher. Der innere Krach erst kann sie aufwachen lassen für ihre unharmonische Lebenssituation, die ebenso auf die Nerven gehen mag wie die Ohrgeräusche.
Nach der gängigen allopathischen Lebenseinstellung versuchen die Patienten mit engagierter Unterstützung der Schulmedizin nur ja nicht auf ihre Ohrgeräusche zu hören, sie wollen gerade nichts davon wissen. Wenn sie aber – im Sinne von „Krankheit als Sprache der Seele“ wissen wollten, was ihnen die Geräusche sagen wollen, ergibt sich die Antwort fast von selbst. Es sind keine wohlklingenden Töne, sondern zumeist laute unangenehme, oft sogar schrille Geräusche.
Das Wort Tinnitus kommt vom Lateinischen „tinnire“ und bedeutet „klingeln“
Klingelgeräusche aber wollen uns etwas sagen, die Fahrradklingel warnt die anderen Verkehrsteilnehmer, die Hausklingel signalisiert nahenden Besuch. Andere Patienten leiden unter lautem Pfeifen, das ja auch ein deutliches Warnzeichen ist und wieder andere stört ein inneres Heulen und Schwirren, beides unmiß-verständliche Zeichen nahender Gefahr. Ob es rauscht, braust, klirrt oder klopft, oder die Alarmglocken Sturm läuten oder die Sirenen heulen, der Aufforderungscharakter ist unüberhörbar: die Geräusche sagen: nimm dich in Acht, es droht Gefahr.
Solche Warnsignale sind auch in der äußeren Welt weniger harmonisch als laut und erschreckend. Eine Sirene soll nicht gefallen, sondern warnen. In der äußeren Welt würde man sie allerdings, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hat, wieder abstellen. Läßt man die Tür einer modernen Gefriertruhe zu lange offen, signalisiert ein Warnton, daß die Temperatur bedrohlich ansteigt. Sobald man die Tür wieder schließt und die Tempera-tur wieder in sichere Bereiche absinkt , verstummt der aggressive Ton, denn er hat ja nun seinen Zweck erfüllt. Würde man die Tür aber offen lassen, liefe die Sirene weiter.
Ähnlich können wir uns die Situation des Tinnituspatienten vorstellen. Er stellt seine innere Warnsirene nicht wieder ab, und selbstverständlich leidet er unter dem störenden Geräusch, ja es mag ihn zur Verzweiflung treiben. Seine einzige wirkliche Chance, das Geräusch wieder loszuwerden, besteht nach meiner Erfahrung darin, auf dessen Botschaft zu horchen und ihr sogar zu gehorchen. Auch eine unangenehme innere Stimme gilt es wahr, wichtig und ernst zu nehmen und langfristig die Forderungen, die sie vertritt, zu erfüllen. Das setzt allerdings ein Maß an Demut voraus, das heute nicht mehr populär und daher wenig verbreitet ist.
Zu schnell gehen wir – wie die Schulmedizin, die diese Geisteshaltung drastisch spiegelt – davon aus, daß wir besser wissen, was notwendig ist als unser Körper. Ihn zum Schweigen zu bringen, ist eines der Hauptanlie-gen der Schulmedizin, sodaß wir weiter ungestört das tun können, was wir für richtig halten. Ihm zuzuhören und seinen Signalen Be-Deutung beizumessen ist dagegen das wesentliche Anliegen von „Krankheit als Symbol“.
Der Körper steht im Dienst der Seele
Nach dieser Auffassung neigt unser Körper nicht zu sinnlosen Aktionen, sondern steht im Dienste der Seele, der er eine Behausung und zugleich eine Bühne bietet für ihre Lernerfahrungen. Weder schikaniert er uns ungerechtfertig, noch ist er eine solche Fehlkonstruktion, die dauernd Defekte ohne Sinn und Ziel heraufbeschwört, wie es uns die mechanistische Medizin weismachen will. Der Körper zeigt uns vielmehr den Weg, wenn die Seele orientierungslos geworden ist, und manchmal bliebt ihm als letzter Ausweg dazu nur ein Krankheitssymptom.
Natürlich muß dieses unangenehm sein, denn sonst würden wir uns von ihm gar nicht aus der Ruhe bringen lassen. Der Tinnitus jedenfalls schreckt seine Besitzer aus ihrer trügerischen Ruhe. Wie der schmerzende Magen oder Kopf signalisiert hier das Innenohr auf seine Art, daß etwas nicht mehr in Ordnung ist. Betrachtet man Zeitqualität und Lebenssituation im Augenblick des ersten Warngeräusches, den Moment, wo der kleine Mann im Ohr zuerst zu toben begann, läßt sich der Zusammenhang meist deutlich erkennen.
Daß das Warngeräusch anhält, bis das Problem gelöst bzw. verarbeitet ist, sollte nicht verwundern, gehört es doch zum System logischen Funktionierens. Erst wenn die Betroffenen ihren nach innen genommenen Krach wieder nach außen bringen, anfangen auf den Tisch zu hauen und Krach zu schlagen, bzw. gegen den Lärm und die lebensfeindliche, d.h. ihr eigenes Leben störende Disharmonie in ihrer Umgebung aufstehen, ergibt sich häufig nach der äußerlichen auch eine innere Entlastung.
Innere Ruhe ergibt sich erst, wenn für äußere Ruhe gesorgt ist
Innere Ruhe, das erklärte oder unausgesprochene Ziel aller Tinnituspatienten, ergibt sich erst, wenn für äußere Ruhe gesorgt ist. Nicht umsonst suchen Menschen, denen die innere Stille ein wichtiges Anliegen oder sogar erklärtes Lebensziel ist, Klöster und Ashrams, wo sie vom Lärm und der Disharmonie der äuße-ren Welt abgeschirmt, auf die Suche nach innerer Ruhe und Ausgeglichenheit gehen können. Ist die Ruhe in der eigenen Mitte einmal gefestigt, kann sie auch im Trubel der äußeren Welt allen möglichen Disharmonien gegenüber bewahrt bleiben.
In der äußeren Hektik läßt sie sich aber nur sehr schwer verwirklichen. Der Tinnitus sagt seinem Besitzer zuerst einmal, daß die Disharmonie, der Mißklang in ihm selbst ist, insofern gilt es auf ihn zu hören und diese Botschaft wichtig zu nehmen. Ist die eigentliche Quelle der Disharmonie, deren Ausdruck und nicht deren Ursache das Geräusch ist, entdeckt, ist es im wahrsten Sinne des Wortes notwendig, hier für Abhilfe zu sorgen. Der Versuch den Mißklang zu unterdrücken, indem man sich davon abzulenken oder ihn zu ignorieren versucht, ist zumeist zum Scheitern verurteilt.
Eine gute Warnsirene ist so penetrant, daß man sie nicht ignorieren kann. Sie dafür zu hassen, daß sie ihren Zweck erfüllt, ist ziemlich dumm. Häufig ist ein Hörsturz oder eine Ohrenentzündung Auslöser von Ohrgeräuschen. Beim Hörsturz ist der Zusammenhang mit Hektik und (Streß)Überlastung ebenfalls gesichert. Man könnte den Hörsturz als eine logische Vorstufe des Tinnitus betrachten, nimmt er doch mit einem Schlag das Hören einer Seite ganz weg. Wenn aber das Hören auf äußere Signale aufhört, lauschen die Betroffenen automatisch mehr nach innen. Das Horchen auf innere Signale kann eine Beziehung zur eigenen inneren Stimme aufbauen, der es zu gehorchen gilt.
Die sprachliche Nähe zwischen hören, horchen und gehorchen weist auf einen tieferen Zusammenhang hin
Die sprachliche Nähe zwischen hören, horchen und gehorchen weist auf einen tieferen Zusammenhang hin, der heute immer mehr in Vergessenheit gerät. Nur wenn wir nach innen horchen, können wir Kontakt zur inneren Stimme aufnehmen, und nur wenn wir dieser Kontakt haben und der inneren Stimme folgen, haben wir Chancen, unseren Lebensweg zu finden. Hier innen finden wir Antworten und Hinweise, wie wir Disharmonien bewältigen können.
Tatsächlich bessert sich der Hörsturz sehr viel schneller als der Tinnitus, sobald sich die Betroffenen in die Ruhe zurückziehen. Ein sich an die Schwerhörigkeit anschließender Tinnitus bringt auch so etwas wie Schwerhörigkeit mit ins Spiel (des Lebens), denn je nach Laufstärke des Geräusches kann es die äußere Geräuschkulisse weitgehend übertönen, oder doch zumindest die Aufmerksamkeit der Betroffenen so weitgehend nach innen lenken, daß sie im Außen immer weniger wahrnehmen.
Bei einer kompletten Taubheit, zeigt sich einerseits eine erzwungene Tendenz, nach innen zu lauschen, wie auch die Schwierigkeit noch mit dem Leben mitzuschwingen. Obwohl die meisten Menschen spontan ande-rer Ansicht sind, zeigt die Erfahrung, daß erworbene Taubheit viel schlechter zu ertragen ist als Erblindung, eben weil dieses Mitschwingen nicht mehr im früheren Ausmaß geschieht.
Der Tinnitus nach Hörsturz macht natürlich auch deutlich, daß das Problem noch nicht gelöst ist, sondern im Gegenteil nach innen verlagert wurde.
Ohrenentzündungen als Auslöser von Tinnitus zeigen wie alle Entzündungen einen Konflikt, in diesem Fall um den Bereich des Horchens und Gehorchens, der bei allen Ohrproblemen mitschwingt.
Das ist auch der Grund, warum Kinder ihre Mittelohrentzündungen gerade in jener Zeit haben, wo es darum geht, gehorchen zu lernen.
Die sprachliche Nähe zwischen hören, horchen und gehorchen weist auf einen tieferen Zusammenhang hin
Nicht selten ist Tinnitus auch mit Gleichgewichtsstörungen vergesellschaftet
Nicht selten ist Tinnitus auch mit Gleichgewichtsstörungen vergesellschaftet, was bei der räumlichen und inhaltlichen Nähe von Gleichgewichtsorgan und Gehörschnecke im Innenohr nicht verwunderlich ist. Ein Mensch, der seelisch aus dem Gleichgewicht ist, entspricht sehr weitgehend jenem, der unter inneren Mißklängen und Disharmonien leidet.
Auch hier läge es nahe, nach innen zu horchen und der inneren Stimme gehorchend, die Dinge wieder ins Lot zu bringen, die für die Schieflage verantwortlich waren. Kommt Schwindel als Krankheitsbild hinzu, liegt es nahe, sich zu fragen, wo man sich etwas vormacht, sich selbst beschwindelt bzgl. seiner Lebenslage. Als Fazit könnten wir Tinnitus als Karikatur der inneren Stimme bezeichnen. Wenn dem so ist, wäre es nahelie-gend, ihr freiwillig zuzuhören, denn dann bräuchte man sich nicht so anschreien zu lassen.
Die Betroffenen könnten noch weiter gehen und jeden Tag freiwillig eine halbe Stunde dem Krankheitsbild opfern, um den Botschaften von innen in meditativer Stimmung zu lauschen. Was diese freiwillig an Auf-merksamkeit bekommen, müssen sie sich nicht erzwingen. Wen seine Ohrgeräusche wütend machen, der könnte sich bewußt um seine Aggressionen kümmern und ihnen sinnvollere Ventile schaffen, wem sie die Konzentration rauben, der könnte sich in seiner Mitte verrücken lassen und auf die Suche nach dem Wesent-lichen in seinem Leben gehen.
Wichtig wäre auch, sich unbewältigten verinnerlichten Streß draußen wieder bewußt zu machen, um ihm dort zu begegnen. Wer aufhört auf Alarmglocken und Warnsirenen zu projizieren, gewinnt Kraft, sich dem eigent-lichen Problem zu stellen. Es ist offenbar besser und gesünder, sich im Außen zur Wehr zu setzen als alles (innen) mit sich allein auszumachen. Das bewußte Bedürfnis nach Stille kann nur befriedigt werden, wenn der innere Lärm wieder nach draußen gebracht wird und die Betroffenen z.B. lernen, eigene Standpunkte mit Vehemenz und Lautstärke zu vertreten. Das wichtigste aber ist, der inneren Stimme Gehör zu schenken und zu gehorchen mit dem Ziel, sich auf sich selbst verlassen zu können, weil man den eigenen Weg erspüren kann, der im Einklang mit dem eigenen Wesen ist und Disharmonien und Mißklängen keinen Raum läßt.
Literaturhinweis:
- R. Dahlke „Krankheit als Symbol“ – Handbuch der Psychosomatik, München 1996
- R. Dahlke „Krankheit als Sprache der Seele“, München 1992