Sind wir alle übersäuert?
Das Problem „Übersäuerung“ kritisch betrachtet
Von Hans-Heinrich Jörgensen
„Sind wir alle übersäuert, oder übertreiben manche Naturheilkundler das Problem?“ fragt mich der „Naturarzt“. Ich bin geneigt, mit einem eindeutigen „Jein“ zu antworten. Und damit der Leser nicht allzusehr verunsichert ist, will ich versuchen, den Widerspruch aufzuklären.
Richtig ist, dass wir lange Zeit die Fähigkeit der Natur überschätzt haben, die viele Säure, die wir ständig in die Luft blasen, zu kompensieren. Unsere Felder und Wälder, unsere Flüsse und Seen siechen unter der Säurelast dahin, und weltweite Verträge, den CO2-Ausstoß zu begrenzen, werden ebenso weltweit ignoriert, am meisten von denen, die am meisten CO2 produzieren. Kurzsichtig, wer meint, am Menschen würde dieses Problem spurlos vorübergehen. Es ist das Verdienst der Naturheilkunde, das Bewusstsein für die Problematik geweckt zu haben, während die „Schulmedizin“ sich bislang ausschließlich für das in den Brunnen gefallene Kind interessiert, nämlich für die akute Azidose, die mit Blaulicht und Martinshorn auf der Intensivstation landet. Aber es liegt doch auf der Hand, dass es zwischen kerngesund und Intensivstation eine Entwicklung gegeben haben muss, die niemand bemerkt hat, bis denn der Notfall eintrat.
Der pH-Wert des Blutes verträgt keine größeren Schwankungen
Diese diagnostische Lücke ist längst geschlossen, denn seit gut zwanzig Jahren gibt es ein relativ einfaches Verfahren, mit dem man die Fähigkeit des Blutes messen kann, den pH-Wert, das ist die Säuremesszahl, unter Kontrolle zu halten. Der pH-Wert des Blutes verträgt keine größeren Schwankungen, er bewegt sich stets in einer winzig kleinen Spanne um pH 7,4 herum. Abweichungen davon sind mit dem Leben nicht vereinbar, und darum hat der liebe Gott, oder wen immer wir für den Homo sapiens verantwortlich machen wollen, uns einen riesigen Schutzwall von puffernden Basen mit auf den Weg gegeben. Die Menge freier Basen, das ist das Gegenteil von Säuren, ist zwanzigmal so groß wie die freien Säuren. Auf jedes saure Molekül in unserem Blut kommen zwanzig basische Moleküle. Diese riesige Pufferkapazität schützt uns vor der akuten Azidose, der akuten Übersäuerung. Darum sind wir auch niemals übersäuert oder sauer, der Begriff ist unglücklich gewählt. Wohl aber kann die Pufferkapazität weniger werden. Knabbern wir lange und heftig genug an diesem zwanzigfachen Schutzwall, dann wird aus dem 20 zu 1 ein 19 zu 1, ein 18 zu 1, und irgendwann bricht das System zusammen. Dann ist Blaulicht angesagt. Diese Entwicklung rechtzeitig zu erkennen, das ist das Ziel der Bestimmung der Pufferkapazität.
Sie fragen, wieso zwanzigfache Basenmenge, wo doch jeder aus dem Schulunterricht noch den Neutralwert von pH 7 im Kopfe hat. Da kann pH 7,4 im Blut doch ‚mal gerade „schwach basisch“ sein, wie es immer heißt. Falsch. Neutralwert pH 7 gilt nur für absolut reines destilliertes Wasser. Jede Lösung, in der irgend etwas herum schwimmt, hat einen eigenen Neutralwert, bei dem Säuren und Basen genau ausgeglichen im Verhältnis 1:1 sind. Dieser neutrale Punkt, pK-Wert nennen wir ihn auch, liegt im Blut bei pH 6,1. Beide Zahlen, pH und pK beschreiben den Verdünnungsgrad der Säure und sind nichts anderes als die kleine hochgestellte Zahl hinter der 10, beraubt um das Minuszeichen. pH 7,4 heißt, dass die Säure in einer Verdünnung von 10-7,4 vorliegt, also an etwas mehr als 7. Stelle hinter dem Komma. Und wenn Sie noch ein klein wenig vom Umgang mit Hochzahlen (Logarithmus nennt der Mathematiker das) behalten haben, dann fragen Sie doch einmal Ihren Taschenrechner, wieviel denn 101,3 ist. 1,3 ist die Differenz zwischen pH 6,1 und 7,4, und 101,3 ist genau 20.
Statt „übersäuert“: weniger basisch wäre richtig formuliert.
Wie brennend ist aber nun dieses Problem in der Gesamtbevölkerung? „Alle“ sind wir sicher nicht „übersäuert“, besser „weniger basisch“. Einige aber schon. Manche naturheilkundliche Literatur erweckt den Eindruck, als hätte die „Übersäuerung“ als Volksseuche schon große Teile der Bevölkerung erfasst. Die Wirklichkeit ist nicht ganz so dramatisch. Die akute Azidose ist extrem selten und allenfalls bei entgleisten Zuckerkranken oder dialysebedürftigen Nierenpatienten zu finden. Stets geht dem die Verminderung der Pufferkapazität vorweg, und das kommt schon eher vor. Allerdings nicht, wie manchmal der Eindruck geweckt wird, bei 70% der Patienten, sondern eher bei unter 5%. Von „alle“ kann also nicht die Rede sein.
Das Phänomen ist bekannt, dass ein warnender Fingerzeig von der Fachpresse aufgegriffen wird, immer breiter breitgetreten wird, von den Therapeuten vor Ort aufgegriffen wird, Firmen veranlasst, Medikamente zu entwickeln, was wiederum Werbung nötig macht, die erneut auf die Therapeutenwelt einhämmert, was schließlich aus dem kleinen (richtigen) Warnhinweis ein scheinbar riesiges Gefahrenpotenzial macht. Der Säure-Teststreifen, ins Nachtgeschirr gehalten, gießt mit seinen Schwankungen dann auch noch Öl ins Feuer, verstärkt die Angst und die Therapiebereitschaft, obwohl seine diagnostische Aussagekraft hat dem Kaffeesatzlesen oder Sternegucken gleicht.
Die Nieren sind das Ausscheidungsorgan für Säuren, aber auch für Basen
Zwar ist die Niere das Ausscheidungsorgan für Säuren, aber auch für Basen. Die meisten Säuren werden bereits an Basen gebunden und damit gepuffert ausgeschieden, Nur knapp ein Tausendstel aller ausgepinkelten Säuren schlägt als Messergebnis auf das Indikatorpapier durch. Und das führt unser Denken dann auch noch in die völlig falsche Richtung. Ist der Urin wunderbar basisch, muss das noch lange kein Zeichen für beste Gesundheit sein, sondern kann auch bedeuten, dass diese Niere keine Säure raus lässt. Dann aber häuft sich die nicht im Urin zu findende Säure fatal im Körper an. Wird jetzt wirksam therapiert, geht die Säure raus aus dem Körper, der Urin wird sauer und der Patient erschrickt ganz fürchterlich. So geschehen, beobachtet und fehl-interpretiert, als nach einer kaliumreichen Getreide-Anfütterung von Versuchspersonen der Urinteststreifen ins Saure rutschte. Getreide säuert nicht, Getreide entsäuert. Die Säure im Nachtgeschirr tut niemandem mehr weh, es sei denn den Blumen….
Säure-Basen-Diagnostik, wenn sie Hand und Fuß haben soll, muss also immer im Blut erfolgen. Halt: ein einfacher Urintest, der schon 1902 in der Literatur beschrieben wurde, kann auch vom Patienten angewendet werden. Morgens zum Frühstück wird ein gestrichener Esslöffel Natriumhydrogencarbonat (Kaiser-Natron) geschluckt. Bis in den Nachmittag hinein wird dann der Urin mit dem Säure-Indikatorpapier kontrolliert. Irgendwann muss er deutlich ins Basische steigen. Tut er das nicht, kann man daraus schließen, dass der Körper den Löffel Base um keinen Preis wieder hergibt, weil er ihn dringlich braucht. Hier kann in der Tat weiterer diagnostischer und therapeutischer Handlungsbedarf vorliegen.
Aus der richtigen Erkenntnis, dass eine Überladung mit Säure das Bindegewebe schädigen kann, wird allzu oft der Umkehrschluss gezogen, jedes Bindegewebsproblem sei eine Säurekrankheit. Allzu oft muss ich am Telefon enttäuschten Therapeuten erklären, warum denn sein klassischer Rheumatiker nicht zwingend auch eine Verminderung der Pufferkapazität aufweisen muss.
Richtig ist, dass Säure, die der Körper nicht rechtzeitig ausscheiden kann, zusätzlich gepuffert werden muss
Gerade das Bindegwebe muss immer wieder als „Beweis“ für eine Minderung der Pufferkapazität, im Alltagsjargon „Übersäuerung“ herhalten, auch ohne präzise Labordiagnostik. Richtig ist, dass Säure, die der Körper nicht rechtzeitig ausscheiden kann, zusätzlich gepuffert werden muss und damit solche Kapazitäten verbraucht. Das kollagene Bindegwebe, rund 70% unseres Körpereiweißes, verfügt über eine hohe Pufferleistung und nimmt darum viel Säure auf. Je mehr Säure darin abgelagert wird, desto mehr verliert es an Elastizität. Und dass das dem Gelenkknorpel und den Bandscheiben nicht gerade zum Besten dient, ist logisch.
Gleiches gilt für das Innere der Körperzellen, insbesondere wenn das lebensnotwendige Kalium in den Zellen fehlt. Auch hier wird aus der Geschmeidigkeit eine Strukturstarre. Die roten Blutkörperchen tun sich immer schwerer, durch die haardünnen Äderchen zu schlüpfen. Die Durchblutung wird schlechter. Und wenn sich in den Nervenzellen Säure statt Kalium breit macht, dann sinkt das Ruhepotenzial der Nerven, die neuromuskuläre Stabilität lässt nach, dieser Patient reagiert in der Tat „sauer“. Und schließlich: eine Mutation der genetischen Informationen im Zellkern, bekanntlich der Beginn von Krebs, kann durch ein saures Milieu begünstigt werden.
Jede putzfreudige Hausfrau weiß, dass man die hässlichen Kalkflecken des Spritzwassers auf den Badezimmerfliesen mit Säure entfernt. Dann sollte jede Hausfrau aber auch wissen, dass man die nützlichen Kalkeinlagerungen des Knochens auch mit Säure entfernt. Die Osteoporose ist keine Östrogenmangelkrankheit, wie man uns die letzten 10 Jahre einzureden versucht hat, sie ist eine Calciummangel- und Säurekrankheit.
Aber noch einmal: alle diese Krankheiten können durch ein Überangebot saurer Valenzen entstehen, aber ebenso durch ungezählte andere Ursachen.
Wie kommt es nun zu einer Säurebelastung? „Sauer“stoff ist mit Sicherheit nicht der Übeltäter, hier irrte der Chemiker Lavosier, der unseren Elementen ihren Namen gab. Im Gegenteil, Sauerstoff ist ein ganz wichtiger Faktor, um Säurekrankheiten zu verhindern. Jeder Sportler weiß, dass anaerobe Verbrennung, d.h. Muskelarbeit auch dann noch weiter, wenn nicht mehr genügend Sauerstoff im Muskel vorhanden ist, zur Milchsäurebildung führt und das Leistungslimit deutlich herabsetzt. Das Training des Sportlers dient nicht zuletzt auch dem Verbessern jener enzymatischen Systeme, die Säure ausscheiden und abbauen. Nun liegt das Leistungslimit von Alten, Blutarmen, Asthmatikern, Herzschwachen, Durchblutungsgestörten usw. weit unter dem des Sportlers, aber stoffwechselmäßig haben diese alle das gleiche Problem, es bildet sich durch den Sauerstoffmangel im Körper Milchsäure, die irgendwo und irgendwie gepuffert und abgebaut werden muss.
Zwingend stellt sich nun die Frage nach der Ernährung
Eine Fülle von Nahrungsmittel-Tabellen mit ihrem Säure- oder Basenwert kursieren immer wieder durch die Literatur und führen zur Verwirrung. Ich kenne sie alle und weiß, wer von wem abgeschrieben hat. Alle gehen sie auf eine Untersuchung von Ragnar Berg im Jahre 1912 zurück, der jedoch nicht Säuren und Basen untersucht hat, sondern Kationen und Anionen, und das ist etwas ganz anderes, wie wir seit 1923 wissen, seit uns der Däne Broenstedt gelehrt hat, dass allein das dissoziierte Wasserstoffatom (H+) Träger der Säure ist. Zudem sind die Untersuchungen unvollständig, denn wenn Kationen und Anionen auf dem Teller nicht genau ausgeglichen sind, dann würde die Suppe zischen, leuchten oder explodieren. Niemand würde mehr mit dem Löffel dran gehen. Das einzige was wir ziemlich sicher wissen, ist die Tatsache, dass Eiweiß aus Aminosäuren besteht, und dass ein Zuviel an Fleisch, Fisch, Ei, Milch und natürlich auch an pflanzlichem Eiweiß mehr Säure in den Körper einbringt als gut ist. Jeder Vegetarier weiß, dass sein Urin basisch wird. Deswegen muss man nicht zwingend Vegetarier werden, aber weniger Fleisch und mehr Pflanze führt ernährungsmäßig zumindest in die richtige Richtung. Unsere Urgroßväter – freitags Fisch, sonntags Fleisch – lagen da besser als wir, allerdings eher der Not gehorchend.
Und noch etwas: wer versucht, seine Ernährung nach Tabellen zu ordnen, täglich den Bedarf an allen Vitaminen, allen Mineralien, allen Spurenelementen, an sauren und basischen Stoffen und was denn sonst noch so wichtig sein könnte, kommt mit dem PC nicht mehr aus, er braucht eine Großrechenanlage, kommt doch nie zum richtigen Ergebnis – und beraubt sich manchen Genusses. Abwechslungsreich, vollwertig, große Dauerfehler meidend und mit Freude essen, das lob‘ ich mir.
Übrigens: Zucker macht manch Problem, vor allem wenn er aller stoffwechselaktiven Begleitstoffe beraubt ist, aber sauer macht er nicht, es sei denn, der notwendige Sauerstoff zu seiner Verbrennung fehlt. Da ja der Kohlenstoff C darin zu CO2 verbrannt wird, braucht jedes C-Atom zwei O-Atome, und wenn es sie nicht durch die Atmung bekommt, nimmt es sie einfach aus dem Körperwasser H2O. Jedes verbrannte Kohlenstoff-Atom hinterlässt also vier dissoziierte Wasserstoff-Atome, Träger der Säure. Und eben darum ist in unserem Erdenrund der ungebremste CO2-Ausstoß auch so fatal. Mutter Erde hat ein paar Millionen Jahre gebraucht, um mit Farnkräutern, Bäumen und Algen unendlich viel Kohlenstoff aus der Atmosphäre herauszufiltern und als Kohle, Torf und Erdöl zu speichern. Der Mensch schafft es in knappe dreihundert Jahren, alles wieder herauszuporkeln und als CO2 in die Atmosphäre zurück zu blasen.
Wir haben allen Grund, das Thema in der Natur und beim Menschen aufmerksam aber kritisch zu beobachten. Wir haben keinen Grund, Panik zu machen. Ich fürchte nur, mein Hinweis, dass die Patienten doch nicht so schrecklich sauer sind, lässt statt dessen nun manchen Therapeuten sauer reagieren.